Kapitel 44

Einen Monat später

Geschirr klapperte, als Isabella und ihre Großmutter, Lady Westcott, auf der Veranda eine kleine Erfrischung zu sich nahmen. Adelaide runzelte hinter ihrem Buch die Stirn. Nein, nicht Lady Westcott. Lady Mansfield. Gideons Mutter hatte ihr geduldig erklärt, dass man sie nicht mit ihrem Nachnamen, sondern mit dem Titel ihres Mannes anredete. Adelaide fiel es immer noch schwer, daran zu denken. Zum Glück hatte Gideon zwei ältere Brüder, die den fürchterlichen Titel erben konnten, deshalb blieb es ihr hoffentlich erspart, ihren Mann jemals mit Lord Mansfield ansprechen zu müssen. Das klang schrecklich steif und formell.

Obwohl sie zugeben musste, dass der momentane Lord Mansfield alles andere als formell war. In den letzten beiden Wochen hatte Gideons Vater sich benommen wie in einem Wild-West-Roman. Er schien anfangs sehr enttäuscht gewesen zu sein, dass man in Westcott Cottage so zivilisiert wohnen konnte. Adelaide lächelte, während sie ihren Blick über den Hof schweifen ließ. Sie selbst hatte in letzter Zeit so viele Abenteuer durchgestanden, dass es ihr für ihr ganzes Leben reichte.

So vieles war in den Tagen seit dem Kampf in der Hütte geschehen. Gideon hatte vor Gericht über das ausgesagt, was ihnen zugestoßen war und dass Mr Farnsworth ihnen im allerletzten Moment das Leben gerettet hatte. Der Richter hatte den Mann deshalb freigesprochen und ihn zurück nach England geschickt. James war auf Westcott Cottage geblieben, bis sein Bein geheilt war. Als er in die Stadt zurückgekehrt war, hatte er die Adoptionspapiere für Isabella mitgenommen, damit sie so schnell wie möglich ein offizielles Mitglied der Familie Westcott wurde.

Gideons Eltern waren vor zwei Wochen angekommen, gerade pünktlich, um mit ihnen und ganz Menardville die Hochzeit nachzufeiern. Mrs Kent hatte sich mit der Dekoration selbst übertroffen und wäre fast in Ohnmacht gefallen, als ein echter Lord und eine echte Lady aus England auf ihrer Türschwelle erschienen waren. Doch der Höhepunkt des Tages war gewesen, als Gideon ihr vor allen seine ewige Liebe und Treue geschworen und ihr einen wunderschönen Ring an den Finger gesteckt hatte.

Adelaide hielt den Topas ins Licht. Die Nachmittagssonne glänzte auf der goldenen Einfassung und spiegelte den Jubel wider, der ihr Herz beherrschte. Sie war so gesegnet. Sie hatte einen Ehemann, der sie aus ganzem Herzen liebte, und eine Familie, die sie freudig willkommen geheißen hatte, obwohl sie nur die Tochter eines amerikanischen Farmers war. Doch Gideons Liebe zu ihr schien auf alle übergesprungen zu sein.

Schließlich riss sie den Blick von ihrem Ring los und wandte sich wieder ihrer zerlesenen Jane-Eyre-Ausgabe zu. Jane hatte Thornfield verlassen und wanderte einsam durch Nordengland. Adelaide seufzte. Jane sehnte sich so sehr nach Edward, wie sie sich selbst nach Gideon verzehrte.

Ihr Ehemann war vor fünf Tagen zusammen mit seinem Vater nach San Antonio aufgebrochen, um sich dort um die Geschäfte zu kümmern. Er musste nach dem Lagerhaus schauen und neue Verträge mit den Händlern aushandeln. Das war Teil des Lebens, wenn man mit einem Schafzüchter verheiratet war, vermutete Adelaide, aber ihr Bett fühlte sich nachts schrecklich leer an. Sie konnte gar nicht glauben, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, nicht mehr allein zu schlafen, sondern die Wärme eines anderen zu genießen.

Adelaide hatte die Aufgabe, sich derweil um ihre Schwiegermutter zu kümmern. Lady Mansfield war die Güte in Person, doch mit ihren eleganten Kleidern wollte sie nicht so ganz in die ländliche Idylle passen. Sie interessierte sich mehr für das neueste Parfum aus Paris als für den Duft von Heu im Pferdestall.

Doch glücklicherweise gab es noch Izzy. Sie kannte sich in beiden Welten aus und wechselte ohne Probleme zwischen ihrer Großmutter und ihrer Mutter. Und sie sorgte immer wieder dafür, dass die beiden Frauen ein Gesprächsthema hatten und sich niemals ein peinliches Schweigen ausdehnte.

Alles war gut geworden, davon war Adelaide überzeugt. Und es würde mit Sicherheit noch besser werden. Gideon würde wieder nach Hause kommen.

Gerade als Adelaide sich wieder ihrer Lektüre widmen wollte, rief ihre Tochter nach ihr.

„Mama?“ Isabella kletterte auf ihren Schoß. „Ist das Papa, der da kommt?“

„Ich glaube nicht, mein Schatz. Vielleicht ist es Miguel oder einer der anderen Männer. Dein Papa kommt frühestens morgen wieder.“

„Aber das weiße Pferd neben ihm sieht genauso aus wie das, was Großvater reitet.“

Adelaide legte ihr Buch beiseite, hob Isabella von ihrem Schoß und stand auf. Sie lehnte sich über das Geländer der Veranda, um die Männer sehen zu können. Die Kleine hatte recht gehabt. Die Reiter sahen aus wie Gideon und sein Vater.

Ihr Herz fing an zu galoppieren. Am liebsten wäre sie ihrem Ehemann entgegengerannt, doch eine englische Lady tat das mit Sicherheit nicht, also hielt auch sie sich zurück. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte Gideon schließlich keine Engländerin geheiratet, nicht wahr?

Ohne ihr glückliches Lächeln zu unterdrücken, raffte sie ihr Kleid und rannte die Treppe hinunter und über den Hof auf die Reiter zu. Der Mann auf dem braunen Tier trieb sein Pferd an und sprang dann schnell ab, ohne darauf zu warten, bis es ganz zum Stehen gekommen war. Adelaide lachte und warf sich in Gideons Arme. Er hob sie hoch und wirbelte sie herum, bevor er sie vorsichtig wieder absetzte und sie zärtlich küsste.

Adelaide versank im Blick seiner dunklen Augen.

„Ich habe dich vermisst, mein Sonnenschein.“ Seine Hände spielten mit ihren Haaren, während er seinen Blick nicht von ihr abwendete. Dann zog er sie wieder an sich und streichelte ihren Rücken. Adelaide erschauderte unter seinen Händen und schloss die Augen.

Sie legte ihren Kopf in den Nacken, damit Gideon sie küssen konnte, doch als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, wie ihr Schwiegervater sie fröhlich angrinste. Adelaide wurde rot und versuchte, sich aus Gideons Umarmung zu befreien – doch das kümmerte ihn nicht. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass seine Eltern sie beobachteten und zog Adelaide nur näher an sich.

„Ich hatte dich nicht vor morgen erwartet“, brachte sie atemlos hervor.

„Der Junge hat von mir verlangt, dass ich im Freien schlafe und beim Reiten esse, damit wir schnell wieder zu Hause sind“, mischte sich Lord Mansfield ein und sah seinen Sohn scheinbar entrüstet an, doch seine Augen funkelten.

„Du wolltest doch einen echten Westernritt erleben. Ich habe dir nur gegeben, wonach du verlangt hast.“

Lord Mansfield lachte laut. „Ich weiß doch selbst noch, wie es war, jung verheiratet zu sein. Und jetzt gib deiner Liebsten endlich ihr Geschenk, während ich meine eigene Frau begrüße. Die Liebe ist nämlich nicht nur etwas für junge Leute!“

Er zwinkerte seinem Sohn zu und drückte ihm eine Leine in die Hand. Neugierig folgte Adelaide dem Seil mit den Augen und erblickte das schönste Fohlen, das sie jemals gesehen hatte. Klein, aber mit exzellentem Körperbau, strahlte das schwarze Tier förmlich in der Sonne.

„Gideon?“ Ihre Augen wurden feucht, als sie ihren Mann fragend ansah. „Ich habe sie Lily genannt, falls es dir nichts ausmacht. Ich weiß, dass sie Saba niemals ersetzen kann, weil sie ein Geschenk von deinem Vater war, aber ich hoffe, dass du dieses Geschenk trotzdem von mir annimmst.“

„Sie ist wunderschön, Gideon. Perfekt.“ Überwältigt trat Adelaide an das Tier heran und tätschelte seinen Hals. Ihr Herz floss über vor Liebe zu dem Mann, der es schaffte, sie immer wieder zu überraschen und ihre unausgesprochenen Wünsche zu erfüllen.

Gideon trat hinter sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Du weißt, dass Salomo die Königin von Saba als gleichberechtigte Herrscherin akzeptiert hat. Doch in seinen Liedern hat er seine Geliebte als Lilie bezeichnet.“

Sein Atem in ihrem Nacken ließ eine Gänsehaut über ihre Arme rinnen. Sie spürte seine Bartstoppeln an ihrer Wange und wandte sich zu ihm um. Zärtlich küsste sie seine Lippen.

„Papa! Papa!“

Gideon trat einen Schritt zurück. Bedauern schimmerte in seinen Augen, aber sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, als seine kleine Tochter auf ihn zugeflogen kam.

„Du musst mich auch umarmen, so wie Mama.“

Adelaide lächelte, als Gideon gehorchte und das Mädchen einmal im Kreis herumwirbelte, bevor er es fest an sich drückte. Sein tiefes Glucksen mischte sich mit Isabellas Kichern.

„Ich glaube, du bist mindestens zwei Zentimeter gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe“, behauptete Gideon, nachdem er Isabella wieder abgestellt hatte.

„Hast du Mama ein neues Pferd geschenkt?“ Sie spähte neugierig um ihn herum, um das Tier in Augenschein zu nehmen.

„Ich habe dir auch etwas mitgebracht.“

Sofort hatte er ihre Aufmerksamkeit sicher. „Wirklich?“

Er nickte und griff in seine Satteltasche. „Eins ist für dich und eins für deine Großmutter. Deins ist das in dem blauen Papier.“ Gideon überreichte ihr zwei kleine Päckchen. „Warum bringst du sie nicht schon mal zum Haus? Gib das rosafarbene Päckchen deiner Großmutter und dann könnt ihr es zusammen aufmachen. Ich komme zu euch, sobald deine Mutter und ich uns um die Pferde gekümmert haben.“

Isabella nahm die Geschenke entgegen und rannte zurück zum Haus.

„Das hast du ja geschickt eingefädelt“, bemerkte Adelaide.

Gideon zwinkerte. „Beeil dich. Wenn wir zu lange brauchen, sucht sie uns bestimmt.“ Er schnappte Salomo und rannte zum Stall.

Adelaides Herz tanzte, als sie hinter ihm herlief. Gideon verschwand im dunklen Inneren des Stalles. Sie ging ebenfalls hinein, sah ihn jedoch nicht. Da sie vermutete, dass er Salomo in seine Box gebracht hatte, ging sie dorthin und führte Lily in eine freie Box gegenüber.

Plötzlich war er neben ihr und legte sanft seine Hände auf ihre Schultern. Dann drückte er leidenschaftlich seine Lippen auf ihren Mund. Schnell hatte sie sich von der Überraschung erholt und gab sich seiner Umarmung hin. Sein Kuss wurde drängender. Adelaide schmolz in seinen Armen dahin.

Schließlich ließ Gideon sie los. Sie schmiegte sich schwer atmend an seine Brust.

„Ich bin so froh, dass du wieder da bist“, murmelte sie.

Er berührte ihre Wange. „Ich hätte es nicht einen Tag länger ohne dich ausgehalten. Immerhin habe ich hier auch meine Pflichten zu erfüllen.“

Sie lachte. „Pflichten, was?“

Sie dachte an die Leidenschaft von eben gerade.

Er grinste sie übermütig an und seine Grübchen ließen Adelaides Knie zittern. „Ich habe dir ein glückliches Ende versprochen, erinnerst du dich? Das kann ich nicht halten, wenn ich nicht bei dir bin.“

Der Klang ihres Lachens erfüllte den ganzen Stall. „Du hast für mich schon einen Drachen erschlagen, ein Kind aus der Not gerettet und die schöne Jungfrau geheiratet. Ich glaube nicht, dass es ein noch glücklicheres Ende geben kann.“

„Nun, ich gebe eben mein Bestes.“

Er küsste sie noch einmal zärtlich auf die Stirn und führte sie dann aus dem Stall in das strahlende Licht des Sommertages hinaus.

Als sie über den Hof auf das Haus zugingen, wanderte Adelaides Blick zum Himmel. Eine flauschige weiße Wolke stand dort über dem Haus – eine Erinnerung an das, was der Herr ihr verheißen hatte, der für dieses glückliche Ende verantwortlich war. Sicher würden die Zeiten nicht immer so unbeschwert sein, doch Gideon und sie hatten jemanden, der sie leitete und ihnen immer zur Seite stand.

Gottes Wege mochten manchmal verschlungen und verborgen sein, doch Adelaide wollte ihm immer vertrauen.

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